Unterstützung für traumatisierte Menschen und ihre Angehörigen 
 

Meine Lieblingsgeschichten

Es war einmal ein Gärtner...
Autor: Heinz Körner, veröffentlicht in „Die Farben der Wirklichkeit“
Ein Märchenbuch aus dem lucy körner verlag

Es war einmal ein Gärtner. Eines Tages nahm er seine Frau bei der Hand und sagte: „Komm, Frau, wir wollen einen Baum pflanzen." Die Frau antwortete: „Wenn Du meinst, mein lieber Mann, dann wollen wir einen Baum pflanzen. „Sie gingen in den Garten und pflanzten einen Baum.

Es dauerte nicht lange, da konnte man das erste Grün zart aus der Erde sprießen sehen. Der Baum, der eigentlich noch kein richtiger Baum war, erblickte zum ersten Mal die Sonne. Er fühlte die Wärme ihrer Strahlen auf seinen Blättchen und streckte sich ihnen hoch entgegen. Er begrüßte sie auf seine Weise, ließ sich glücklich bescheinen und fand es wunderschön, auf der Welt zu sein und zu wachsen. „Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, „ist er nicht niedlich, unser Baum?" Und seine Frau antwortete: „Ja, lieber Mann, wie du schon sagtest: Ein schöner Baum!" Der Baum begann größer und höher zu wachsen und reckte sich immer weiter der Sonne entgegen. Er fühlte den Wind und spürte den Regen, genoss die warme und feste Erde um seine Wurzeln und war glücklich. Und jedes Mal, wenn der Gärtner und seine Frau nach ihm sahen, ihn mit Wasser tränkten und ihn einen schönen Baum nannten, fühlte er sich wohl. Denn da war jemand, der ihn mochte, ihn hegte, pflegte und beschützte. Er wurde lieb gehabt und war nicht allein auf der Welt.

So wuchs er zufrieden vor sich hin und wollte nichts weiter als leben und wachsen, Wind und Regen spüren, Erde und Sonne fühlen, lieb gehabt werden und andere lieb haben.

Eines Tages merkte der Baum, dass es besonders schön war, ein wenig mehr nach links zu wachsen, denn von dort schien die Sonne mehr auf seine Blätter. Also wuchs er jetzt ein wenig nach links. „Schau", sagte der Gärtner zu seiner Frau, „unser Baum wächst schief. Seit wann dürfen Bäume denn schief wachsen, und dazu noch in unserem Garten? Ausgerechnet unser Baum. Gott hat die Bäume nicht geschaffen, damit sie schief wachsen, nicht wahr Frau?" Seine Frau gab ihm natürlich Recht. „Du bist eine kluge und gottesfürchtige Frau", meinte daraufhin der Gärtner. „Hol also unsere Schere, denn wir wollen den Baum gerade schneiden."

Der Baum weinte. Die Menschen, die ihn bisher so lieb gepflegt hatten, denen er vertraute, schnitten ihm die Äste ab, die der Sonne am nächsten waren. Er konnte nicht sprechen und deshalb nicht fragen. Er konnte nicht begreifen. Aber sie sagten ja, dass sie ihn lieb hätten und es gut mit ihm meinten. Und sie sagten, dass ein richtiger Baum gerade wachsen müsse. Und Gott es nicht gern sähe, wenn er schief wachse. Also musste es wohl stimmen. Er wuchs nicht mehr der Sonne entgegen.

„Ist er nicht brav, unser Baum?" fragte der Gärtner seine Frau. „Sicher, lieber Mann!", antwortete sie, „du hast wie immer recht. Unser Baum ist ein braver Baum." Der Baum begann zu verstehen. Wenn er machte, was ihm Spaß und Freude bereitete, dann war er anscheinend ein böser Baum. Er war nur lieb und brav, wenn er tat, was der Gärtner und seine Frau von ihm erwarteten. Also wuchs er jetzt strebsam in die Höhe und gab darauf acht, nicht mehr schief zu wachsen.

„Sie dir das an", sagte der Gärtner eines Tages zu seiner Frau, „unser Baum wächst unverschämt schnell in die Höhe. Gehört sich das für einen rechten Baum?" Seine Frau antwortete: „Aber nein, lieber Mann, das gehört sich natürlich nicht. Gott will, dass Bäume langsam und in Ruhe wachsen. Und auch unser Nachbar meint, dass Bäume bescheiden sein müssten, ihrer wachse auch schön langsam." Der Gärtner lobte seine Frau und sagte, dass sie etwas von Bäumen verstehe. Und dann schickte er sie die Schere holen, um dem Baum die Äste zu stutzen.

Sehr lange weinte der Baum in dieser Nacht. Warum schnitt man ihm einfach die Äste ab, die dem Gärtner und seiner Frau nicht gefielen? Und wer war dieser Gott, der angeblich gegen alles war, was Spaß machte? „Schau her, Frau", sagte der Gärtner, „wir können stolz sein auf unseren Baum." Und seine Frau gab ihm wie immer Recht. Der Baum wurde trotzig. Nun gut, wenn nicht in die Höhe, dann eben in die Breite. Sie würden ja schon sehen, wohin sie damit kommen. Schließlich wollte er nur wachsen, Sonne Wind und Erde fühlen, Freude haben und Freude bereiten. In seinem Innern spürte er ganz genau, dass es richtig war, zu wachsen. Also wuchs er jetzt in die Breite.

„Das ist doch nicht zu fassen." Der Gärtner holte empört die Schere und sagte zu seiner Frau: „Stell dir vor, unser Baum wächst einfach in die Breite. Das könnte ihm so passen. Das scheint ihm ja geradezu Spaß zu machen. So etwas können wir auf keinen Fall dulden!" Und seine Frau pflichtete ihm bei: „Das können wir nicht zulassen. Dann müssen wir ihn eben wieder zurecht stutzen."

Der Baum konnte nicht mehr weinen, er hatte keine Tränen mehr. Er hörte auf zu wachsen. Ihm machte das Leben keine rechte Freude mehr. Immerhin, er schien nun dem Gärtner und seiner Frau zu gefallen. Wenn auch alles keine rechte Freude mehr bereitete, so wurde er nun wenigstens lieb gehabt. So dachte der Baum. Viele Jahre später kam ein kleines Mädchen mit seinem Vater an dem Baum vorbei. Er war inzwischen erwachsen geworden, der Gärtner und seine Frau waren stolz auf ihn. Er war ein rechter und anständiger Baum geworden.

Das kleine Mädchen blieb vor ihm stehen. „Papa, findest du nicht auch, dass der Baum hier ein bisschen traurig aussieht?" fragte es. „Ich weiß nicht", sagte der Vater. „Als ich so klein war wie du, konnte ich auch sehen, ob ein Baum fröhlich oder traurig ist. Aber heute sehe ich das nicht mehr." „Der Baum sieht wirklich ganz traurig aus." Das kleine Mädchen sah den Baum mitfühlend an. „Den hat bestimmt niemand richtig lieb. Schau mal, wie ordentlich der gewachsen ist. Ich glaube, der wollte mal ganz anders wachsen, durfte aber nicht. Und deshalb ist er jetzt traurig." „Vielleicht", antwortete der Vater versonnen. „Aber wer kann schon wachsen wie er will?"

„Warum denn nicht?" fragte das kleine Mädchen. „Wenn jemand den Baum wirklich lieb hat, kann er ihn auch wachsen lassen, wie er selber will. Oder nicht? Er tut doch niemandem etwas zuleide."

Erstaunt und schließlich erschrocken blickte der Vater sein Kind an. Dann sagte er: „Weißt du, keiner darf so wachsen wie er will, weil sonst die anderen merken würden, dass auch sie nicht so gewachsen sind, wie sie eigentlich mal wollten." „Das verstehe ich nicht, Papa!" „Sicher, Kind, das kannst du noch nicht verstehen. Auch du bist vielleicht nicht immer so gewachsen, wie du gerne wolltest. Auch du durftest nicht." „Aber warum denn nicht, Papa? Du hast mich doch lieb und Mama hat mich auch lieb, nicht wahr?" Der Vater sah sie eine Weile nachdenklich an. „Ja", sagte er dann, „sicher haben wir dich lieb."

Sie gingen langsam weiter und das kleine Mädchen dachte noch lange über dieses Gespräch und den traurigen Baum nach. Der Baum hatte den beiden aufmerksam zugehört, und auch er dachte lange nach. Er blickte ihnen noch hinterher, als er sie eigentlich schon lange nicht mehr sehen konnte. Dann begriff der Baum. Und er begann hemmungslos zu weinen. In dieser Nacht war das kleine Mädchen sehr unruhig. Immer wieder dachte es an den traurigen Baum und schlief schließlich erst ein, als der Morgen zu dämmern begann. Natürlich verschleif das Mädchen an diesem Morgen. Als es endlich aufgestanden war, wirkte sein Gesicht blass und stumpf. „Hast du etwas Schlimmes geträumt?" fragte der Vater. Das Mädchen schwieg, schüttelte dann den Kopf. Auch die Mutter war besorgt: „was ist mit dir?" Und da brach doch schließlich all der Kummer aus dem Mädchen. Von Tränen überströmt stammelte es: „Der Baum! Er ist so schrecklich traurig! Darüber bin ich so traurig. Ich kann das alles einfach nicht verstehen." Der Vater nahm die Kleine behutsam in seine Arme, ließ sie in Ruhe ausweinen und streichelte sie nur liebevoll. Dabei wurde ihr Schluchzen nach und nach leiser und die Traurigkeit verlor sich allmählich.

Plötzlich leuchteten die Augen des Mädchens auf, und ohne dass die Eltern etwas begriffen, war es aus dem Haus gerannt. Wenn ich traurig bin und es vergeht, sobald mich jemand streichelt und in die Arme nimmt, geht es dem Baum vielleicht ähnlich - so dachte das Mädchen. Und als es ein wenig atemlos vor dem Baum stand, wusste es auf einmal, was zu tun war. Scheu blickte die Kleine um sich. Als sie niemanden in der Nähe entdeckte, strich sie zärtlich mit den Händen über die Rinde des Baumes. Leise flüsterte sie dabei: „Ich mag dich, Baum. Ich halte zu dir. Gib nicht auf, mein Baum!" Nach einer Weile rannte sie wieder los, weil sie ja zur Schule musste. Es machte ihr nichts aus, dass sie zu spät kam, denn sie hatte ein Geheimnis und eine Hoffnung.

Der Baum hatte zuerst gar nicht bemerkt, dass ihn jemand berührte. Er konnte nicht glauben, dass das Streicheln und die Worte ihm galten - und auf einmal war er ganz verblüfft, und es wurde sehr still in ihm. Als das Mädchen wieder fort war, wusste er zuerst nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Dann schüttelte er seine Krone leicht im Wind, vielleicht ein bisschen zu heftig, und er sagte zu sich, dass er wohl geträumt haben müsse. Oder vielleicht doch nicht? In einem kleinen Winkel seines Baumherzens hoffte er, dass es kein Traum gewesen war.

Auf dem Heimweg von der Schule war das Mädchen nicht allein. Trotzdem ging es dicht an dem Baum vorbei, streichelte ihn im Vorbeigehen und sagte leise: „Ich mag dich und ich komme bald wieder." Da begann der Baum zu glauben, dass er nicht träumte, und ein ganz neues, etwas seltsames Gefühl regte sich in einem kleinen Ast.

Die Mutter wunderte sich, dass ihre Tochter auf einmal so gerne einkaufen ging. Auf alle Fragen der Eltern lächelte die Kleine nur und behielt ihr Geheimnis für sich. Immer wieder sprach das Mädchen nun mit dem Baum, umarmte ihn manchmal, streichelte ihn oft. Er verhielt sich still, rührte sich nicht. Aber in seinem Inneren begann sich etwas stärker zu regen. Wer ihn genauer betrachtete, konnte sehen, dass seine Rinde ganz langsam eine freundlichere Farbe bekam. Das Mädchen jedenfalls bemerkte es und freute sich sehr.

Der Gärtner und seine Frau, die den Baum ja vor vielen Jahren gepflanzt hatten, lebten regelmäßig und ordentlich, aber auch freudlos und stumpf vor sich hin. Sie wurden älter, zogen sich zurück und waren oft einsam.

Den Baum hatten sie so nach und nach vergessen, ebenso wie sie vergessen hatten, was Lachen und Freude ist - und Leben. Eines Tages bemerkten sie, dass manchmal ein kleines Mädchen mit dem Baum zu reden schien. Zuerst hielten sie es einfach für eine Kinderei, aber mit der Zeit wurden sie doch etwas neugierig. Schließlich nahmen sie sich vor, bei Gelegenheit einfach zu fragen, was das denn soll. Und so geschah es dann auch.

Das Mädchen erschrak, wusste auch nicht so recht, wie es sich verhalten sollte. Einfach so davonlaufen wollte es nicht, aber erzählen, was wirklich war - das traute es sich nicht. Endlich gab sich die Kleine einen Ruck, dachte: „Warum eigentlich nicht?" und erzählte die Wahrheit. Der Gärtner und seine Frau mussten ein wenig lachen, waren aber auf eine seltsame Weise unsicher, ohne zu wissen, warum. Ganz schnell gingen sie wieder ins Haus und versicherten sich gegenseitig, dass das kleine Mädchen wohl ein wenig verrückt sein müsse. Aber die Geschichte ließ sie nicht mehr los.

Ein paar Tage später waren sie zufällig in der Nähe des Baumes, als das Mädchen wiederkam. Dieses Mal fragte es die Gärtnersleute, warum sie denn den Baum so zurechtgestutzt haben. Zuerst waren sie empört, konnten aber nicht leugnen, dass der Baum in den letzten Wochen ein freundlicheres Aussehen bekommen hatte. Sie wurden sehr nachdenklich. Die Frau des Gärtners fragte schließlich: „Meinst du, dass es falsch war, was wir getan haben?" „Ich weiß nur", antwortete das Mädchen, „dass der Baum traurig ist. Und ich finde, dass das nicht sein muss. Oder wollt ihr einen traurigen Baum?" „Nein!" rief der Gärtner „Natürlich nicht. Doch was bisher gut und recht war, ist ja auch heute noch richtig, auch für diesen Baum." Und die Gärtnerin fügte hinzu: „Wir haben es doch nur gut gemeint." „Ja, das glaube ich", sagte das Mädchen, „ihr habt es sicher gut gemeint und dabei den Baum sehr traurig gemacht. Schaut ihn doch einmal genau an!" Und dann ließ sie die beiden alten Leute allein und ging ruhig davon mit dem sicheren Gefühl, dass nicht nur der Baum Liebe brauchen würde.

Der Gärtner und seine Frau dachten noch sehr lange über dieses seltsame Mädchen und das Gespräch nach. Immer wieder blickten sie verstohlen zu dem Baum, standen oft vor ihm, um ihn genau zu betrachten. Und eines Tages sahen sie auch, dass der Baum zu oft beschnitten worden war. Sie hatten zwar nicht den Mut, ihn auch zu streicheln und mit ihm zu reden. Aber sie beschlossen, ihn wachsen zu lassen, wie er wollte.

Das Mädchen und die beiden alten Leute sprachen oft miteinander - über dies oder das und manchmal über den Baum. Gemeinsam erlebten sie, wie er ganz behutsam, zuerst ängstlich und zaghaft, dann ein wenig übermütig und schließlich kraftvoll zu wachsen begann. Voller Lebensfreude wuchs er schief nach unten, als wolle er zuerst einmal seine Glieder räkeln und strecken. Dann wuchs er in die Breite, als wolle er die ganze Welt in seine Arme schließen, und in die Höhe, um allen zu zeigen, wie glücklich er sich fühlt. Auch wenn der Gärtner und seine Frau es sich selbst nicht trauten, so sahen sie doch mit stiller Freude, dass das Mädchen den Baum für alles lobte, was sich an ihm entfalten und wachsen wollte. Voll Freude beobachtete das Mädchen, dass es dem Gärtner und seiner Frau beinahe so ähnlich erging wie dem Baum. Sie wirkten lebendiger und jünger, fanden das Lachen und die Freude wieder und stellten eines Tages fest, dass sie wohl manches im Leben falsch gemacht hatten. Auch wenn das jetzt nicht mehr zu ändern wäre, so wollten sie wenigstens den Rest ihres Lebens anders gestalten. Sie sagten auch, dass sie Gott wohl ein wenig falsch verstanden hätten, denn Gott sei schließlich Leben, Liebe und Freude und kein Gefängnis.

So blühten gemeinsam mit dem Baum zwei alte Menschen zu neuem Leben auf. Es gab keinen Garten weit und breit, in welchem ein solch schief und fröhlich gewachsener Baum stand. Oft wurde er jetzt von Vorübergehenden bewundert, was der Gärtner, seine Frau und das Mädchen mit stillem, vergnügtem Lächeln beobachteten. Am meisten freute sie, dass der Baum all denen Mut zum Leben machte, die ihn wahrnahmen und bewunderten.

Diesen Menschen blickte der Baum noch lange nach - oft bis er sie gar nicht mehr sehen konnte. Und manchmal begann er dann, so dass es sogar einige Menschen spüren konnten, tief in seinem Herzen glücklich zu lachen.

 


Autobiographie in fünf Kapiteln

Ich gehe die Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren... ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer dauert es sehr lange, herauszukommen.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein... aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort wieder heraus.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.

Ich gehe eine andere Straße.

 Portia Nelson, zitiert in „Das Tibetische Buch vom Leben und Sterben“ von Sogyal Rinpoche

Geschenke

Meine Mutter verstarb vor vier Jahren. Die tiefste Trauer meines Lebens erfasste mich. Hinzu kam die alte Sehnsucht: Ich hätte mich so gerne von ihr geliebt gefühlt! Auf dieses Gefühl würde ich nun für immer verzichten müssen.

Vor einem Jahr sichtete ich meine Habseeligkeiten, um mich für unseren Umzug zu entlasten. Dabei fielen mir ganz viele kleine Büchlein in die Hand, die ich zu besonderen Anlässen von meiner Mutter bekommen hatte. Sie enthielten von ihr eingetragene Gedichte und Gebete. Ich hatte ihre Geschenke angenommen, ausgepackt und dann ungelesen bei Seite gestellt. Nun begann ich darin zu blättern. In wunderbarer Handschrift, trotz schlimmsten Rheumas in den Händen, waren ganz individuelle Texte für mich zusammengetragen und aufgeschrieben worden. Ich spürte plötzlich, dass diese trennende Glaswand die zu Lebzeiten zwischen uns vorhanden war nicht mehr existierte. Ich spürte ihre Liebe, ihre Wärme und ihr einfach nur riesengroßes Herz für mich. Denn die Texte hatten alle etwas mit mir zu tun. Die Freude über diese Schätze wurde dadurch getrübt, dass ich unendlich traurig wurde, weil mir meine Mutter immer Liebe zeigte. Und ich hatte sie auf Grund meiner falschen Annahme ständig vor den Kopf gestoßen. Nur weil ich meine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte, dass eine Mutter, die ihr Kind in der Familie missbrauchen lässt, das Kind nicht lieben kann. So hatte ich immer nur das gesehen, was ich sehen wollte. Und dieses Mischgefühl von übermäßigem Glück einerseits, Trauer und Schuldgefühlen andererseits begleitete mich nach dieser Entdeckung lange.

Dann eines Abends lag ich im Bett und in meiner Meditation nahm ich Kontakt mit meiner Mutter auf. Ich sprach mit ihr über meine Gefühle und die Traurigkeit über die vielen nicht gelebten Glücksmomente. Darüber schlief ich ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mir klar, dass ich jedes Mal, wenn ich ein Büchlein in die Hand nehme von ihr eine Streicheleinheit bekomme. Ein Streicheln ihrer zarten Hände und Stimme, die mir sagen: Ich liebe Dich!

Und obwohl ich sehr lange mit meiner Ähnlichkeit zu meiner Mutter zu kämpfen hatte, bin ich heute dankbar und glücklich darüber, dass ich die von mir am meisten an ihr geliebte Ähnlichkeit von ihr geerbt habe: Ihre zarten, liebevollen Hände!

Christine Striebel

Der Regenmacher

In einem Dorf hatte es lange nicht geregnet. Alle Gebete und Prozessionen hatten nichts genützt, der Himmel blieb verschlossen. In der größten Not wandte sich das Dorf an den Großen Regenmacher. Er kam und bat um eine Hütte am Dorfrand und um Brot und Wasser für fünf Tage. Dann schickte er die Leute zu ihrer täglichen Arbeit.

Am vierten Tag regnete es. Die Menschen kamen jubelnd von ihren Feldern und anderen Arbeitsplätzen und zogen vor die Hütte des Regenmachers, um ihn zu feiern und nach dem Geheimnis des Regenmachens zu fragen. Er antwortete ihnen: “Ich kann keinen Regen machen.“ „Aber es regnet doch“, sagten die Leute. Der Regenmacher erklärte ihnen: „Als ich in euer Dorf kam, sah ich die äußere und innere Unordnung. Ich ging in die Hütte und brachte mich selber in Ordnung. Als ich in Ordnung war, kamt auch ihr in Ordnung, und als ihr in Ordnung wart, kam auch die Natur in Ordnung, und als die Natur in Ordnung war, hat es geregnet.“

 Metapher aus „Suche nach dem Sinn des Lebens“ von Willigis Jäger

 Im Garten des Königs

Es war einmal ein König. Eines Tages ging der König in seinen Garten. Und als er in den Garten kam fand er dort nur welkende und sterbende Bäume, Sträucher und Blumen.

Der König ging zu einer Eiche fragte was geschehen sei?

Die Eiche sagte, sie würde sterben, weil sie nicht so hoch werden könne wie die Tanne.

Als der König sich nun einer Tanne zuwandte, ließ diese nur ihre Zweige hängen, weil sie keine Trauben tragen könnte wie der Weinstock.

Und auch der Weinstock lag im Sterben, weil er nicht blühen konnte wie die Rose.

Doch endlich entdeckte der König das wilde Stiefmütterchen. Das wilde Stiefmütterchen war blühend und frisch, wie eh und je.

Der König fragte das Stiefmütterchen warum es als einziges nicht im Sterben lag?

Auf seine Frage erhielt er folgende Antwort: „Für mich war klar, dass du ein Stiefmütterchen haben wolltest, als du mich einpflanztest. Hättest du eine Eiche, einen Weinstock oder eine Rose gewollt, hättest du eine Eiche, einen Weinstock oder eine Rose gepflanzt. Deshalb dachte ich: Da du mich hier eingepflanzt hast, sollte ich mein Bestes geben, um deinem Wunsch zu entsprechen. Und da ich ohnehin nichts anderes sein kann, als ich bin, versuche ich dies nach besten Kräften zu sein."

Die Geschichte habe ich hier gefunden: https://www.reiki-ausbildung-hamburg.de/

Das Konzept individueller Unterschiede

Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Das Curriculum bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet.

Die Ente war gut im Schwimmen; besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittliche Noten aber waren akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer: die Ente.

Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachsichtig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden.

Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und musste von der Schule abgehen, wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen.

Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ ihn seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr „Dreien“ im Klettern und „Fünfen“ im Rennen.

Die mit Sinn fürs Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in das Curriculum aufzunehmen.

Am Ende des Jahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen, und etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlussansprache.
(Unbekannter Autor)

Fatima, die Spinnerin und das Zelt

Einst lebte in einer Stadt im fernen Westen ein Mädchen mit Namen Fatima. Sie war die Tochter eines erfolgreichen Spinners. Eines Tages sagte der Vater zu ihr: „Komm, meine Tochter, wir wollen eine Reise machen, denn ich muss auf den Inseln des Mittelmeeres einem Geschäft nachgehen. Vielleicht lernst du einen hübschen jungen Mann in guter Position kennen, den du heiraten kannst.“

Sie brachen auf und reisten von Insel zu Insel, der Vater ging seinem Handel nach und Fatima träumte von dem Ehemann, der ihr bald angehören würde. Eines Tages aber, sie waren auf dem Weg nach Kreta, kam ein Sturm auf, und sie erlitten Schiffbruch. Fatima wurde in der Nähe von Alexandria halb bewusstlos an den Strand geschwemmt. Ihr Vater war tot, und sie völlig mittellos.

Nur dunkel konnte sie sich an ihr früheres Leben erinnern, denn das Erlebnis es Schiffbruches und die Zeit, in der sie dem Meere preisgegeben war, hatten sie völlig erschöpft.

Wie sie nun am Strande entlangging, traf sie eine Familie von Tuchwicklern. Obgleich sie arm waren, nahmen sie das Mädchen zu sich in ihre dürftige Hütte und lehrten sie ihr Handwerk. So baute sich Fatima ein zweites Leben auf, und nach einem oder zwei Jahren war sie glücklich und mit ihrem Schicksal ausgesöhnt. Aber als sie eines Tages aus irgendeinem Grund am Strand war, landete eine Bande Sklavenhändler, ergriff sie und nahm sie samt anderen gefangen mit sich fort.

Bitter beweinte Fatima ihr Los, stieß aber bei den Sklavenhändlern keinerlei Verständnis; sie nahmen sie mit nach Istanbul und verkauften sie als Sklavin.

Zum zweiten Mal war ihr die Welt zusammengebrochen. Nun wollte es das Glück, dass nur wenige Käufer auf dem Markt waren. Einer dieser Männer hielt Ausschau nach Sklaven, die auf seinem Zimmermannsplatz arbeiten sollten, wo er Schiffsmasten herstellte. Als er die unglückliche Fatima in ihrer Mutlosigkeit sah, entschloss er sich, sie zu kaufen, weil er dachte, dass er ihr auf diese Weise vielleicht ein leichteres Los verschaffen könnte, als wenn irgendein anderer sie kaufte.

Er nahm Fatima mit sich nach Hause und hatte die Absicht, sie als Dienstmagd seiner Frau einzustellen. Aber als sie zu Hause ankamen, musste er erfahren, dass er sein ganzes in einer Schiffsladung untergebrachtes Hab und Gut verloren hatte, denn es war von Seeräubern gekapert worden. Er konnte sich keine Arbeiter mehr leisten, so waren er, Fatima und sein Weib alleine mit der schweren Arbeit, der Herstellung von Schiffsmasten.

Fatima war ihrem Brotherren dankbar für die Errettung und arbeitete so hart und so gut, dass er ihr die Freiheit schenkte, und sie wurde sein Verwalter. So also kann man sagen, dass sie doch auch in ihrer dritten Laufbahn einigermaßen glücklich wurde.

Eines Tages sagte er zu Fatima: „Fatima, ich möchte, dass du als mein Verwalter eine Ladung Schiffsmasten nach Java begleitest, und du kannst sicher sein, dass du sie mit gutem Gewinn verkaufen wirst.“

Sie reiste ab, aber als das Schiff an der Küste Chinas entlang fuhr, wurde es das Opfer eines Taifuns, und wieder geschah es, dass sie auf den Strand eines fremden Landes geworfen wurde. Wieder einmal weinte sie bittere Tränen, fühlte sie doch, dass nichts in ihrem Leben so lief, wie sie es erhoffte. Immer wenn sich etwas gut anließ, trat ein Ereignis ein, das alle Hoffnungen zerstörte.

„Warum“, so rief sie nun zum dritten Mal, „warum ist es so, dass mir alles, was ich anfange, zum Unglück ausschlägt? Warum muss mir so viel Leid widerfahren?“ Aber es gab keine Antwort. So richtete sie sich mühsam auf, um ins Land hineinzuwandern.

Nun hatte zwar niemand in China je etwas von Fatima gehört oder irgendetwas von ihrem Unglück gewusst. Aber es gab eine Legende, nach der eines Tages ein Fremdling, eine Frau, ankommen und fähig sein würde, ein Zelt für den Kaiser zu machen. Und nachdem es bislang niemanden in China gab, der Zelte bauen konnte, sahen alle mit gespannter Erwartung der Erfüllung dieser Vorhersage entgegen.

Damit dieser Fremdling, wenn er ankommen sollte, nicht übersehen würde, hatten die jeweiligen Kaiser von China die Sitte, einmal im Jahr in alle Städte und Dörfer des Landes Herolde zu senden, die nach einer Frau aus der Fremde fragten, um sie bei Hofe vorzustellen.

Als Fatima in der Nähe der chinesischen Küste in eine Stadt kam, war dies nun gerade einmal wieder der Fall. Mit Hilfe eines Dolmetschers sprachen die Leute sie an und erklärten ihr, dass sie zum Kaiser gehen solle.

Als Fatima vor den Kaiser gebracht wurde, fragte er sie: „Werte Frau, kannst du ein Zelt machen?“

„Ich denke schon“, sagte Fatima. „Ich werde deinen Auftrag erfüllen!“

Sie bat um Seile, aber es gab keine. Da erinnerte sie sich an ihre Zeit als Spinnerin, sammelte Flachs und drehte Seile. Dann bat sie um kräftiges Tuch, aber die Chinesen hatten keines von der Art wie sie es brauchte. Da erinnerte sie sich an die Kenntnisse, die sie bei den Webern in Alexandrina erworben hatte, und stellte festes Zelttuch her. Dann brauchte sie Zeltpfosten, aber in China gab es keine. So dachte Fatima an das, was sie in Istanbul bei dem Zimmermann gelernt hatte, und machte kräftige Zeltpflöcke. Als sie auch damit fertig war, strengte sie ihren Verstand an, um sich auf all die Zelte zu besinnen, die sie auf ihren Reisen gesehen hatte: und siehe da, sie baute ein Zelt!

Als dieses Wunder dem Kaiser von China gezeigt wurde, sagte er Fatima zu, ihr einen Wunsch zu erfüllen, sie möge ihn nur aussprechen. Sie wünschte sich, in China zu bleiben, heiratete einen hübschen Prinzen und war glücklich im Kreise ihrer Kinder bis zum Ende ihrer Tage.

Gerade durch die vielen Abenteuer erkannte Fatima, dass sich all das, was ihr als unangenehme Erfahrung erschienen war, als wesentlicher Teil dessen herausstellte, wodurch schließlich ihr Glück begründet wurde.

Griechische Volkserzählung