Schritt für Schritt ins Leben: Leseprobe
Vorwort
Seit dem Zeitpunkt, als ich in einem Fernsehinterview bei Cameron West (Autor von „Erste Person Plural“) einen Wechsel miterlebte, war ich überwältigt davon, was für massive tief greifende Überlebensstrategien die menschliche Seele in Todesangst entwickeln kann. Bei den Interviews zu meinem ersten Buch „Nicht allein“ vertrauten sich mir auch Menschen an, die Viele sind. Seitdem hat mich dieser ausgeklügelte Schutzmechanismus nicht mehr in Ruhe gelassen. Er ist für den Betroffenen in vielen Lebensphasen extrem belastend, obwohl er einstmals überlebensnotwendig war. Immer wieder fragte ich mich, was dieser Seelenschutz mit mir zu tun hat. Doch ich habe bis heute keine Antwort gefunden. Manchmal dachte ich: Berührt mich die MPS, weil ich Sehnsucht danach habe, auch Dinge tun zu können, die mir heute als Schatten meiner eigenen traumatischen Vergangenheitserlebnisse noch Probleme machen? Dann dachte ich: Wie schön wäre es, wenn die starke Franziska, mein Innenanteil, hervor käme und ich könnte Rad fahren und freudig verreisen. Doch alles, was ich tun kann, ist das, was Christine möglich ist.
Als ich begann, dieses Phänomen des multipel seins zu erkunden, wünschte ich mir vielleicht insgeheim, dass ich einen Weg finden würde, mir etwas von dieser Überlebensstrategie abschauen und abkupfern zu können. Wie naiv meine ursprünglichen Gedanken waren, konnte ich am eigenen Leibe verspüren. Es war die Zeit, als ich intensiv an der Zusammenstellung meiner Interviews arbeitete.
Ich stand vor einer Tür, die freundlich von einem jungen Mädchen geöffnet wurde. Erstaunt und gleichzeitig erfreut wurde ich angeblickt und ins Haus gebeten. Die junge Frau schien mich zu kennen und bot mir auf einem Sofa Platz an. Ich hatte große Mühe, meine Verwirrung und die vielen Fragen in mir zu verbergen. Denn ich hatte keine Ahnung, wo ich war und wer der Vater war, der eben gerufen wurde. Diffuse Gefühle breiteten sich in mir aus. Die Angst wuchs und ich sagte mir immer wieder: „Benimm dich ganz normal. Höre hin. Dann wird sich alles aufklären.“ Ein Mann meines Alters kam auf mich zu und reichte mir freundlich lächelnd die Hand. „Schön“, meinte er, „dass wir uns nun mal persönlich kennen lernen. Ich bin Peter.“ Irgendeine Stimme in mir sagte: „Du kennst Peter vom Mailen. Er ist eine Vertrauensperson.“ Peter muss mir meine Verwirrung angesehen haben, denn er bat seine Tochter, uns alleine zu lassen. Dann fragte er: „Was ist los mit dir?“ Ich wagte meine Fragen zu stellen: „Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Was für ein Tag ist heute?“
„Du bist hier bei uns im Höllental. Und draußen steht ein Auto mit HD Kennzeichen, also wirst du mit dem Auto gekommen sein.“
Meine Unruhe steigerte sich. Ich Autofahr-Angsthase sollte mit dem Auto alleine mehr als 200 km von Heidelberg ins Höllental gefahren sein? Unmöglich! Ich war doch nur kurz einkaufen gewesen. Es konnte nur eine Lösung für diese komische Geschichte geben: Ich war endlich, wie mir schon in meiner Kindheit prophezeit worden war, wahnsinnig geworden. Peter schlug mir vor, meinen Mann anzurufen, damit er mich abholen könnte. Ich stimmte diesem Vorschlag pro forma zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich diese lange Wartezeit überleben sollte. So überlegte ich gleichzeitig, wie ich in Sicherheit gelangen könnte. Eine Gummizelle und eine Spritze, die den Alptraum enden lässt. Das wäre meine Rettung. Ich wollte lieber eingesperrt und betäubt sein, als auch nur noch einen Augenblick länger als unbedingt notwendig diese Panik vor dem Wahnsinn fühlen zu müssen. Also flehte ich mit letzter Kraft, bereits schweißgebadet und mit rasendem Herzen Peter an, einen Arzt zu rufen, um meine Einweisung in die Psychiatrie von ihm dann erbetteln zu können.
Und da wachte ich nass geschwitzt und panisch aus meinem Traum auf. Seit diesem Erlebnis ist mir auch gefühlsmäßig klar, wie sehr Multiple durch die Hölle gehen müssen, bis sie einen für sie lebenswerten Umgang mit ihrer Überlebensstrategie gefunden haben. Auf diesem Weg soll sie mein Buch begleiten und unterstützen, denn nun kann ich wenigstens annäherungsweise mit ihnen fühlen. Gleichzeitig hoffe ich, den Betroffenen Hilfestellung für ihren schwierigen Weg an die Hand geben zu können.
…
Einleitung
In meinem ersten Buch „Nicht allein“ habe ich Selbsthilfeanregungen für Betroffene nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit zusammengestellt. Die „Dissoziative Identitäts-Störung“ und ihre Zwischenformen sind Überlebensstrategien, die unter anderem durch diese massiven, als Todes nah erlebten Übergriffe und andere Gewalteinwirkungen in der frühen Kindheit entstehen. In meinen Interviews traten mutige Frauen an die Öffentlichkeit. Sie wagten es, ihre eigene Leidensgeschichte publik zu machen, um anderen Betroffenen Mut zu machen, zu Ihren Nöten zu stehen und Hilfe anzunehmen und lassen uns damit teilhaben an ihrer Geschichte.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Betroffene und an Menschen, die Basisinformationen wünschen und sich für Unterstützungsmöglichkeiten von Betroffenen interessieren. Ich habe bewusst im medizinisch-neurologischen Bereich vereinfacht, weil ich möglichst viele Innenanteile erreichen möchte, auch die jüngeren. Denn je mehr Anteile an der Heilung mitarbeiten können, umso erfolgreicher wird sie sein. Möchtest du genauere Informationen haben, empfehle ich dir, deine Therapeutin oder deinen Arzt zu befragen oder den Originaltext im Internet zu lesen.
Dieses Buch soll Betroffenen Hilfestellung geben auf ihrem Weg in ein besseres und gesundes Leben. Doch auch am Thema interessierten Leserinnen und Lesern möchte ich einen Einblick in diese Überlebensstrategie geben. Mein Hauptziel ist es, Betroffenen Tipps und Tricks an die Hand zu geben, wie sie ihren Alltag besser bewältigen, Krisen besser managen und ihnen vorbeugen können. Hierbei habe ich als Verbindungselement die Tipps und Tricks mit ins Buch eingefügt, die mir meine InterviewpartnerInnen gegeben haben. Da für viele Betroffene Struktur wichtig ist durch das so genannte „innere Chaos“, wie es viele bezeichnen, habe ich vieles in Form von Listen und Aufzählungen zusammengestellt. Diese Beispiele sollen dir Anregung geben, deine eigenen Listen zu erstellen. Gleichzeitig bieten sie dir Auswahlmöglichkeiten an, die du ausprobieren kannst. Ein anderes Anliegen ist es mir, im sozialrechtlichen Bereich für Aufklärung und Informationen zu sorgen. Hier herrschen oft noch große Unsicherheiten, wie z. B. beim Stellen eines Antrages auf Schwerbehinderung, was große Vorteile und Schutz bedeuten kann, aber auch oft mit einer großen Hürde verbunden ist.